Gemeinsam die Pandemie bekämpfen 2021-01-12 Rede von MdL Jürgen Mistol zum Grünen Dringlichkeitsantrag vom 16.12.20 Video anzeigen Herr Präsident, Kolleginnen und Kollegen! Die Infektionszahlen laufen im gesamten Land aus dem Ruder. Täglich sind wir mit höheren Infektionszahlen konfrontiert. Die Zahl der Todesfälle steigt stark an. Allein in Bayern betrauern wir mittlerweile knapp 5.000 Menschen. Das ist eine hohe Zahl. Darauf gibt es aus unserer Sicht nur eine Antwort: Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen in ganz Deutschland, und deswegen unterstützen wir GRÜNE die einschneidenden Maßnahmen, die auf der Konferenz der Ministerpräsident*innen mit der Bundeskanzlerin am vergangenen Sonntag beschlossen wurden; denn sie sind unabwendbar, um die Infektionszahlen endlich zu senken. Ja, diese Maßnahmen sind so kurz vor Weihnachten und dem Jahreswechsel eine Zumutung. Aber was ist die Alternative? Schon jetzt ist das Gesundheitswesen in Bayern einer gefährlich hohen Belastung ausgesetzt; und die Menschen, die in die- sem System arbeiten, die Ärzt*innen und die Pfleger*innen, noch viel mehr. Um das System am Laufen zu halten, brauchen wir dringend eine Entlastung, und zwar jetzt. Deshalb ist das Gebot der Stunde, jetzt gemeinsam zu handeln, nicht bis zu den Weihnachtsferien zu warten und den Lockdown am morgigen Mittwoch beginnen zu lassen. (Beifall bei den GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, wir haben es jetzt in der Hand, Disziplin und Solidarität zu üben, uns von manch liebgewonnenen Ritualen der Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel für dieses Jahr zu verabschieden, damit unser Gesundheitswesen nicht kollabiert und Ärztinnen und Ärzte nicht entscheiden müssen, wer künstlich beatmet werden soll und wer nicht. Wir GRÜNE wollen alles tun, um solche Ent- scheidungen zu verhindern. Einschränkungen bedeuten übrigens nicht, dass Weihnachten ausfällt; vielleicht wird uns dieses Weihnachten, dieser Jahreswechsel viel stärker in Erinnerung bleiben, weil er so ganz anders sein wird als sonst. Für uns alle gilt: Nicht alles, was möglich ist, muss auch gemacht werden. Die Beschränkungen der privaten Zusammenkünfte mit Freund*innen, Verwandten und Bekannten sind Obergrenzen, die auch unterschritten werden können. Klar sind soziale Kontakte wichtig, gerade in Krisenzeiten. Dass jedoch diese großzügigeren Regeln für Weihnachten nur für Anverwandte in gerader Linie inklusive Geschwis- terkindern gelten, erschließt sich mir jedoch nicht. Ich kenne nicht wenige Menschen, die weder Geschwister noch Kinder noch eine feste Partnerin oder einen festen Partner haben und deren Eltern vielleicht schon gestorben sind; die leben nicht alleine, sondern in selbst gewählten Familienzusammenhängen, Stichwort: Wahlfamilie. Sie haben von den Lockerungen zu Weihnachten gar nichts. Da geht es nicht um Kumpel, wie der Herr Ministerpräsident gesagt hat, es geht nicht um Freunde, sondern es geht um die Wahlfamilie. Gerade in der queeren Community, aber auch in anderen Teilen unserer bunten bayerischen Gesellschaft erzeugt das heftiges Kopfschütteln. Ich sage Ihnen auch: Diese verquere Regel hat weniger mit epidemiologischen Erkenntnissen zu tun. Sie zeigt vielmehr sehr deutlich ein völlig antiquiertes Familien- und Gesellschaftsbild auf, das auch gestern wieder von der Staatsregierung be- müht wurde. Ich hingegen sage: Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Regierungsfraktionen, lasst uns froh und bunter sein! Kolleginnen und Kollegen, dass es keine Sonderregeln zu Silvester gibt, hatten wir GRÜNE schon bei der vorletzten Regierungserklärung gefordert. Gut, dass jetzt auch die anderen zur Einsicht gekommen sind. Vielleicht ist es an der Zeit, ganz andere Formen zu finden, um das neue Jahr zu begrüßen, die vielleicht auch in Zukunft Bestand haben. Mir geht es zumindest so: Ein Silvester ohne Böller und Raketen entlastet nicht nur unser Gesundheitssystem, sondern schützt auch Umwelt und Tiere. Ich kann sagen: Wir GRÜNE freuen uns schon darauf. (Beifall bei den GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, Corona trifft besonders die Alten- und die Pflegeheime, die Behinderteneinrichtungen und die Menschen, die dort arbeiten. Man muss es so deutlich sagen: Bayerns Heime stehen vor einer Zerreißprobe. Wie die alten Menschen schützen und sie gleichzeitig vor sozialer Isolation und Trostlosigkeit be- wahren? Die Regel, dass alle von täglich höchstens einer Person – aus unserer Sicht sollte es ein Haushalt sein – besucht werden dürfen und das auch nur dann, wenn diese einen aktuellen, negativen Corona-Test vorlegen kann und eine FFP2- Schutzmaske trägt, stellen wir nicht in Frage. Die meisten Einrichtungen im Freistaat haben aber massive Probleme, die Testverordnungen und die weiteren Vorgaben des Gesundheitsministeriums überhaupt umzusetzen. Ich sage Ihnen: Eine Vorgabe ist schnell gemacht; sie muss aber auch praktikabel sein. Mobile Testteams zum Beispiel könnten hilfreich sein, um regelmäßige Antigen-Tests durchzuführen. Hier ist die Staatsregierung in der Pflicht, die Praxistauglichkeit zu gewährleisten, auch Informationen, zum Beispiel in Leichter Sprache und für Sehbehinderte, zur Verfügung zu stellen und dafür zu sorgen, dass niemand allei- ne sein muss – nicht an Weihnachten und auch sonst nicht. (Beifall bei den GRÜNEN) Kolleginnen und Kollegen, die Schließung des Einzelhandels ist hart, gerade in der Vorweihnachtszeit. Es gibt nicht wenige Geschäfte, die in dieser Zeit ihren höch- sten Umsatz haben und das ganze Jahr davon leben. Deshalb müssen die ange- kündigten großen Hilfen auch wirklich großzügig sein. Wirklich unverständlich ist für uns der Passus im Entwurf der Elften Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, dass Abholdienste im Einzelhandel auch bei Vorliegen eines Hygienekonzeptes untersagt sind, während der Beschluss der MPK vom Sonntag ausdrücklich Abhol- und Lieferdienste zulässt. Hier schießt die Staatsregierung über das Ziel hinaus. Da ist es die Staatsregierung, die Ausnahmen macht. Herr Söder hat den Vorwurf geäußert, andere wollten Ausnahmen, aber er macht hier die Ausnahme von der Regel, die auf Bundesebene gilt. Aus unserer Sicht kann es auch nicht sein, dass die Blumenhändlerin bzw. der Blumenhändler in der Innenstadt schließen muss, aber der Discounter am Ortsrand Blumen verkaufen darf. (Beifall bei den GRÜNEN) Ich sage sehr deutlich: Die Lage des Einzelhandels und der Gastronomie, gerade in den Innenstädten und den Ortszentren, bereitet uns GRÜNEN große Sorge. Innenstädte und Ortskerne sind das Herz einer jeden Stadt, eines jeden Dorfes; es sind Orte der Begegnung, sie bieten kulturellen Austausch, sie sind auch wichtige Wirtschaftstreiber – oder vielmehr: sie waren es; denn unsere Innenstädte und Ortskerne sind in einer tiefen Krise. Die Corona-Pandemie wirkt hier wie ein Brand- beschleuniger. Darauf sollten wir jetzt schon großes Augenmerk legen und den Grundstock dafür legen, dass unsere Innenortslagen attraktiv bleiben oder es wieder werden. Das schafft Identität, das stärkt das gesellschaftliche Miteinander. Nun zu Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen: Uns GRÜNEN war und ist es wichtig, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Pandemie weder in der Bil- dung noch in der Betreuung unter die Räder kommen. Dass nun bis in den Januar hinein kein Präsenzunterricht mehr stattfinden kann, ist eine Situation, die wir gerne vermieden hätten; aber alles andere wäre nun nicht mehr verantwortbar. Dass Minister Piazolo gestern auch den Distanzunterricht abgesagt hat – wir haben heute gehört: Es war anders gemeint –, diese Kommunikationspanne ist aus unserer Sicht der Super-GAU und der beste Beweis dafür, dass die Zeit nach dem ersten Lockdown nicht für sinnvolle Vorbereitungen genutzt wurde. (Beifall bei den GRÜNEN) Man muss deutlich sagen: Ein tragfähiges Unterrichtskonzept unter Pandemie-Bedingungen ist uns der Kultusminister immer noch schuldig, (Beifall bei den GRÜNEN) aber nicht nur uns, sondern insbesondere den Schülerinnen und Schülern und den Lehrerinnen und Lehrern. Von der Bildung zur Wirtschaft: Ich unterstreiche an dieser Stelle nochmals den Appell der GRÜNEN an die Wirtschaft, alle Möglichkeiten für Betriebsferien oder Homeoffice-Lösungen bis zum 10. Januar großzügig zu nutzen, um bayernweit den Grundsatz „Wir bleiben zu Hause“ auch wirklich umzusetzen. Den scharfen Lockdown sehen auch wir wie übrigens der ifo Chef, Clemens Fuest, in einem aktuellen Interview als eine Investition in die Zukunft, damit wir möglichst nach dem 11. Januar lockern und ordentlich in das neue Jahr starten können, statt die Wirtschaft dann nochmals herunterfahren zu müssen. Wir wissen es nicht, ob das so kommt; aber wir haben gute Chancen, dass dieser Effekt eintritt. Klar aber ist: Der Lockdown verlangt uns allen, der Wirtschaft, dem Handel, viel ab, sehr viel sogar. Dafür braucht es Unterstützung. Einiges ist schon beschlossen, wir müssen aber noch mal genauer hinschauen, um keinen und keine zu übersehen, vor allem auch die nicht, die keine starke Lobby haben, gleich ob sie Solo-Selbstständige, Künstler*innen oder kleine Einzelhändler*innen sind. Damit die beschlossenen Maßnahmen auch wirklich greifen können, ist eine Informations- und Aufklärungskampagne zu den Regeln, über Verbreitungswege und Gefahren dringend notwendig; denn wir müssen auf die Menschen zugehen, um die Akzeptanz für die notwendigen Maßnahmen zu erhöhen. Vor allem aber sei das Hin und Her bei den Regeln Gift für die Disziplin, sagte kürzlich die Gesundheitspsychologin Cornelia Betsch von der Universität Erfurt in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. Zitat: „Die Menschen brauchen einen festen Rahmen, an den sie sich halten und auf dessen Gültigkeit sie sich verlassen können.“ So habe der größte politische Fehler, sagt Frau Betsch, der vergangenen Wochen darin bestanden, den Menschen Lockerungen über Weihnachten und Silvester in Aussicht zu stellen, ohne diese an klare Bedingungen zu knüpfen. Ich kann nur an alle appellieren: Lernen wir daraus. Kolleginnen und Kollegen, die zweite Welle hat uns mit voller Wucht erwischt. Wir können gegen die Pandemie nur ankämpfen, wenn die föderale Familie an einem Strang zieht. Hierbei ist es gut, wenn kein Bundesland allein den Kampf gegen das Coronavirus führt. Stattdessen erwarten die Menschen in unserem Land auch ein gutes Zusammenspiel zwischen Regierung und Opposition. Diesem Zusammenspiel Ausdruck zu verleihen, ist das Ziel unseres Antrags, der Ihnen vorliegt. Wir sind gespannt, wie Sie sich dazu verhalten. Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr werden wir das Weihnachtsfest nicht in der gewohnten Art und Weise feiern können. Ich bin jedoch sehr zuversichtlich, dass wir irgendwann – hoffentlich bald – wieder das Leben führen können, das wir vor Beginn der Pandemie geführt haben. Manche Dinge werden sich nach überstandener Krise womöglich sogar zum Besseren wenden. In diesem Sinne: Halten wir Abstand, halten wir zusammen! (Beifall bei den GRÜNEN)Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Grüner Dringlichkeitsantrag „Gemeinsam die Pandemie bekämpfen“ (PDF, 261kB)herunterladen